Title
Engaging the Atom. The History of Nuclear Energy and Society in Europe from the 1950s to the Present


Editor(s)
Kaijser, Arne; Lehtonen, Markku; Meyer, Jan-Henrik; Rubio-Varas, Mar
Series
Energy and Society
Published
Extent
IX, 337 S.
Price
$ 34,99
Reviewed for H-Soz-Kult by
Christian Götter, Institut für Geschichtswissenschaft, Technische Universität Braunschweig

Der von Arne Kaijser, Markku Lehtonen, Jan-Henrik Meyer und Mar Rubio-Varas herausgegebene Band ist im Kern ein Ergebnis eines von Euratom geförderten Forschungsprojekts zur „History of Nuclear Energy and Society“ (HoNESt), dessen Ziel es war, das Verhältnis von Kernenergie und Gesellschaft in 19 europäischen Ländern von Spanien bis Finnland und vom Vereinigten Königreich bis Russland sowie in den USA historisch und sozialwissenschaftlich zu untersuchen. Das Ziel des Bandes mit seinen neun interdisziplinären Beiträgen, die von einer Einleitung und einem Fazit der Herausgeber gerahmt werden, besteht darin, der Frage nachzugehen, wie man die deutlich unterschiedlichen Umgangsweisen der untersuchten Gesellschaften mit der (hier primär zivilen) Atomenergie erklären kann. Dies, so argumentieren die Herausgeber, könne letztlich nur durch einen vergleichenden Ansatz herausgearbeitet werden. Tatsächlich gibt es (fast) keinen Beitrag im Band, der sich allein mit der Situation in einem Land befasst. Vielmehr greifen die Beiträge mehrheitlich auf die Ergebnisse des HoNESt-Projektes in Form der hier erarbeiteten „Short Country Reports“ zurück und arbeiten auf deren Basis produktiv vergleichend.1 Die Antwort, die die Herausgeber auf dieser Grundlage für die von ihnen aufgeworfene Frage geben, besteht in der „central hypothesis“, dass es zum Verständnis der „multiple and multifaceted nuclear-societal relations in Europe and elsewhere“ notwendig sei, genau zu untersuchen, wie sich die wechselseitige Interaktion von Gesellschaften und Kernenergie historisch entwickelt habe (S. 9). Sie besteht – in anderen Worten – nicht zuletzt in dem auch explizit gemachten Aufruf, die Geschichte der Kernenergie als „Public Technology“ weiter zu erforschen (S. 10). Für eben diese weitere Forschung liefern die Beiträge des Bandes nicht nur solide Grundlagen, sondern weisen auch interessante Richtungen auf, indem sie einige im Feld lang tradierte Überzeugungen in Frage stellen.

Die ersten zwei Beiträge sind unter der Überschrift „Context“ versammelt und bilden gerade für diejenigen, die neu in das Thema einsteigen, eine nützliche Grundlage. In „Nuclear-Society Relations from the Dawn of the Nuclear Age“ skizzieren Paul Josephson, Jan-Henrik Meyer und Arne Kaijser ein letztlich transnational zu beobachtendes zeitliches Grundgerüst der Kernenergiegeschichte, von einer frühen Begeisterung für die zivile Seite der Technologie hin zu einer zunächst zunehmenden, dann wieder abflachenden Kritik an ihr. Sie beleuchten hierbei die katalytische Rolle der großen Reaktorunfälle – insbesondere von Three Mile Island und Tschernobyl – für die Ausbreitung kritischer Positionen und erörtern die Bedeutung der Demokratisierung insbesondere in den Ländern Osteuropas als eine Grundlage dafür, dass Kritik öffentlich sag- und wahrnehmbar werden konnte. Für die Gegenwart betonen sie die Präsenz der Frage, wie mit Atommüll umgegangen werden kann, und betrachten kurz die gegenwärtig auf Atomkraft setzenden Nationen Europas, von Frankreich und Großbritannien über Finnland bis nach Russland. Mar Rubio-Varas‘ anschließender Beitrag „The Changing Economic Context Influencing Nuclear Decisions“ bricht eine Lanze für eine wirtschaftsgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kernenergie und zeigt, dass wirtschaftliche Faktoren – nicht zuletzt die Größe des jeweiligen Strommarktes, der nationalen Industrie und schließlich die Entwicklung der Zinssätze – für den Bau oder Nicht-Bau von Kernkraftwerken in den untersuchten Ländern entscheidend waren.

Im Abschnitt „Actors“ sind die nächsten beiden Beiträge versammelt. Zunächst kritisieren Albert Presas i Puig und Jan-Henrik Meyer in „One Movement or Many? The Diversity of Antinuclear Movements in Europe“ eine in den vergleichend angelegten Studien zur Interaktion von Kernenergie und Gesellschaft zu beobachtende Tendenz, die antinuklearen Bewegungen Europas vor allem auf ihre Gemeinsamkeiten hin zu lesen. Sie plädieren mit Blick auf fünf nationale Beispiele dafür, bei aller Bedeutung der Verbindungen über nationale Grenzen hinweg – etwa für den Transfer von Wissen über die Technologie einerseits und Proteststrategien andererseits – diese Bewegungen in ihrer Pluralität und Unterschiedlichkeit ernst zu nehmen, etwa im Hinblick auf ihre soziale Zusammensetzung, ihre Grundüberzeugungen und ihre Vorgehensweisen. In „International Orgainzations and the Atom: How Comecon, Euratom, and the OECD Nuclear Energy Agency Developed Societal Engagement“ befassen sich dann Paul Josephson und Markku Lehtonen mit der Öffentlichkeitsarbeit der im Titel genannten internationalen Organisationen, die als Kontrolleure der Technologie einerseits und als Agenten ihrer Ausbreitung andererseits fungierten. Sie legen dar, wie sie bis 1970 vor allem damit befasst waren, transnational für die Technologie zu werben, dann angesichts der lauter werdenden Kritik gerade in den westlichen Nationen vermehrt auf öffentliche Erläuterungen setzten. Nach dem Ende des Kalten Krieges – und des Council for Mutual Economic Assistance (Comecon) – wurde diese Tendenz zu einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit trotz zahlreicher Widerstände intensiviert – und beinhaltete teilweise sogar Elemente des Zuhörens.

Unter der Überschrift „Perspectives“ schließlich sind die verbleibenden fünf teils sehr unterschiedlichen, aber auch sehr anregenden Beiträge des Bandes zusammengeschnürt. Dies gilt bereits für Josep Espluga, Wilfried Konrad, Ann Enander, Beatriz Medina, Ana Prades und Pieter Cools, die in „Risky or Beneficial? Exploring Perceptions of Nuclear Energy over Time in a Cross-Country Perspective“ herausarbeiten, dass sich die grundlegenden Annahmen über ökologische wie ökonomische Chancen sowie Gesundheits- und Umweltrisiken in den untersuchten Ländern ähnlich entwickelten, wobei Risiken vor allem von 1970 bis 1990 im Vordergrund standen. Vor diesem Hintergrund argumentieren sie dann, dass die Akzeptanz oder Ablehnung der Technologie offensichtlich nicht allein von den breit erforschten Risiko- und Chanceneinschätzungen abhänge, sondern von Vertrauen in Institutionen und Unternehmen sowie „sociocultural contextual factors“ (S. 165). Die in der Forschung ebenfalls häufig beleuchteten Vertrauensfragen stehen dann im Zentrum des Beitrags von Markku Lehtonen, Matthew Cotton und Tatiana Kasperski. In „Trust and Mistrust in Radioactive Waste Management: Historical Experience from High- and Low-Trust Contexts“ zeigen sie am Beispiel Finnlands, Frankreichs, Schwedens, des Vereinigten Königreichs und Russlands, dass der in Westeuropa seit den 1990er-Jahren als zentral geltende Aufbau von (institutionellem) Vertrauen im Hinblick auf die Akzeptanz von Atommülllagern als dynamischer Prozess verstanden werden muss. Unterschiedliche Spielarten von Vertrauen – soziales, institutionelles und ideologisches Vertrauen – wirken hier ebenso zusammen wie Umgangsweisen mit Misstrauen. Letztlich aber sind sie alle, so die Schlussfolgerung, abhängig von „contextual factors“ wie etwa den Erfahrungen lokaler Gemeinschaften mit der Kernenergie (S. 190). Nachdem mit Risiken und Chancen einerseits und Vertrauensfragen andererseits zwei in der Forschung sehr präsente Ansätze zur Erklärung der gesellschaftlichen Interaktion mit der Kernenergie relativiert wurden, macht Matthew Cottons Beitrag „Nuclear Power and Environmental Justice. The Case for Political Equality“ ein alternatives Angebot. Er präsentiert das Konzept der Environmental Justice und hebt vor diesem Hintergrund die Bedeutung der Prinzipien „justification“, „compensation“, „engagement“ und „autonomy“ für das öffentliche Empfinden politischer Gleichberechtigung hervor (S. 208f.). Am Beispiel der britischen Kernenergiepolitik zeigt er dann auf, dass diese Prinzipien letztlich nur in einer kurzen Phase um die Jahrtausendwende wirklich beachtet wurden – in einer Phase, in der die nationale Regierung weder aus sicherheits- noch umweltpolitischen Erwägungen besonders an der Kernenergie interessiert war. Mit Blick auf die gegenwärtige und künftige Entwicklung der Technologie in Europa mahnt er an, dass mit vermehrtem öffentlichen Widerstand zu rechnen sei, wenn den genannten Prinzipien nicht (wieder) stärker Rechnung getragen würde. In „Nuclear Energy in Europe: A Public Technology“ präsentieren dann Stathis Arapostathis, Robert Bud und Helmuth Trischler die Kernenergie überzeugend als eine, wenn nicht die „public technology“ – eine Technologie, die in ihrer Entwicklung eng mit gesellschaftlichen Selbstbildern und Visionen verknüpft war und weit über Expertendiskurse hinaus auch durch das Interesse der Öffentlichkeit an ihr und öffentliche Interaktionen mit ihr geformt wurde, und zwar bis hin zum konkreten Design der Kernkraftwerke. Dabei, so heben sie hervor, spielten nicht nur Kritiker, sondern auch Befürworter der Technologie eine zentrale Rolle – und „critical events like accidents, natural phenomena and disasters, political unrest, and energy crises“, die sich auf die öffentliche Wahrnehmung der Technologie und auf die Art und Weise auswirkten, wie öffentliche Meinungsäußerungen erfolgten (S. 232). In „Nuclear Installations at European Borders: Transboundary Collaboration and Conflict“ schließlich untersuchen Arne Kaijser und Jan-Henrik Meyer europäische Grenzregionen als aufgrund der Auswahlkriterien für Atomanlagen – etwa die Nähe zu Flüssen oder Küsten – besonders häufige Standorte. Sie zeigen deutlich auf, dass es in diesen Fällen eben nicht nur zu grenzübergreifenden Protesten, sondern auch zu Kooperation kam, etwa von Energieversorgern oder Genehmigungsbehörden. Regierungen, so arbeiten sie heraus, reagierten kaum auf Anlagen jenseits ihrer Grenzen, wenn nicht antinukleare Stimmung im eigenen Land sie dazu drängte. All dies gilt allerdings nicht für den sowjetisch beeinflussten Teil Europas, wo kein nennenswerter bilateraler Austausch stattfand.

In ihrem Fazit betonen die Herausgeber, dass die vielgestaltige Geschichte der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Kernenergie prägend für die gegenwärtigen Situationen in den untersuchten Ländern ist, weshalb sie nicht außen vor gelassen werden kann, wenn man sich mit der (weiteren) Entwicklung der Technologie befasst. Auch heben sie hervor, dass in der Interaktion von Kernenergie und Gesellschaften – von der lokalen bis zur europäischen Ebene – nicht nur die Technologie, sondern auch die Gesellschaften selbst, etwa „the nature and quality of democracy“ verhandelt wurden (S. 280). Sie leiten daher aus der Kernenergiegeschichte einige allgemeinere Schlussfolgerungen ab: So sei es für das erfolgreiche Umsetzen von Projekten zentral, die Perspektiven Betroffener frühzeitig zu berücksichtigen, was allerdings keine Garantie für eine Akzeptanz biete. Eine weitere zentrale Bedingung sei die Pflege eines intakten Vertrauens in Institutionen – auch über die direkt an der Kernkraft beteiligten Akteure hinaus. Denn Atomenergie gelte grundsätzlich als „highly transformative of local societies and landscapes“ (S. 282). Immer sei die grundsätzlich transnationale Technologie eng mit grundlegenden Werten und Identitäten verbunden. Sie werde daher, auch in Form ihrer Überreste, ein politisches Thema bleiben – sowohl dort, wo sie inzwischen hauptsächlich ausgebaut werde, namentlich in Asien, als auch in Europa. Hier sehen sie die besondere Herausforderung, dass ein abnehmendes Interesse an ihr – nicht zuletzt auch bei Studierenden – auf einen langfristig notwendigen, fachlich kompetenten Umgang mit der Technologie trifft. Hier seien auch Geistes- und Sozialwissenschaften gefragt, wie der vorliegende und zu weiterem Nachdenken anregende Band beispielhaft demonstriert.

Anmerkung:
1 Diese sind aktuell unter https://academica-e.unavarra.es/xmlui/handle/2454/38269 (13.12.2023) zu finden.